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Neurodiversität und Sex – Ein Gesprächsanfang | Neurodivergence and Sex – A Conversation Start

(English version below)


Ich weiß es noch genau. Jeden Morgen, wenn ich nach nächtlichen Treffen mit meinem ersten Freund in der Bahn saß, blinkte das Smartphone auf und meine damalige beste Schulfreundin fragte: »Und? Wie war’s?« Ich wusste mit meinem nicht vorhandenen Vokabular meistens nicht, was ich darauf antworten sollte, also schrieb ich nur: »Wild«. Dass ich dabei auf die Kratzspuren auf meinem Rücken referierte und die blauen Flecke, die meine Oberarme schmückten, war der Schulfreundin sofort klar. Gleich kam irgendein Tumblr-Meme hinterher geschossen, in dem man den zerkratzten Rücken eines durchtrainierten Sportler Typs sah. Darunter stand: Good sex looks like this. Dieses Bild sollte sich für immer in mein Gehirn einbrennen. Ich schätze, dass das, was mein damaliger Freund und ich als Sex hatten, mit heutigen Terms als »kinky« bezeichnet würde. Oder in BDSM-Terms: Primal Play. Natürlich wusste ich damals noch nichts von Kink oder Communitys, in denen so etwas ausgelebt wurde und man like-minded Peers finden konnte. Ich war sweet sixteen und der Typ von dem ich immer zwischen Speckgürtel und Wien für nächtliche Abenteuer hin und herpendelte war der zweite Mensch, mit dem ich überhaupt jemals penetrativen Sex hatte. Aber warum erzähle ich diese Geschichte? Vielleicht hat es ein bisschen etwas damit zu tun, dass sowohl jener Freund als auch ich ursprünglich aus ganz anderen Gründen zusammengefunden hatten. Es war erst Jahre später, dass wir miteinander schliefen. Zunächst war er der einzige andere Mensch in meinem Leben, der diese Dunkelheit verstand, die sich seit meinem zwölften Lebensjahr sukzessive in meinen Kopf schlich. Meine Eltern waren verständlicherweise mit unserer kryptischen Sprache überfordert und viele Freund:innen wollten mit den schwarzen Klamotten oder der »dunklen« Musik, die wir um uns als Schutzwall errichteten, nichts zu tun haben. Dass hinter alledem in uns beiden etwas versteckt war, das – wie ich viel später erst lernen sollte – Depression hieß, war für uns zu dem damaligen Zeitpunkt meilenweit entfernt. Und der Sex, den wir hatten, war eine Möglichkeit und selbst zu spüren. 


Zufälligerweise fiel die Zeit, in der ich mit meinem ersten Freund Sex hatte, auch mit der Zeit zusammen, als mich meine Eltern das erste Mal in Therapie schickten. Ich habe es gehasst und bin gleichzeitig zwölf Jahre später so glücklich, dass sie das gemacht haben. Denn ich würde heute nicht hier stehen, wenn ich diese Hilfe nicht bekommen hätte. Nun muss man sagen, war diese erste Therapie nicht besonders produktiv, weil Mental Health unter Teens noch nicht besonders groß geschrieben war und das gemeinsame subkulturelle Wühlen in diesem Schmerz fast schon als cool galt. Aber einige Jahre später begann ich die zweite Therapie und bin inzwischen bei meiner vierten Therapeutin. Es gab immer wieder Phasen, in denen es mir streckenweise besser ging und dann wieder turbulentere Wellengänge, die mich zurück in den Ozean zogen. Dabei muss ich sagen: Auch Diagnosen habe ich in den zwölf Jahren gewechselt, wie gebrauchte Sneakers. Nach vielen Jahren der Verunsicherung habe ich durch Therapie und Medikamente jetzt aber das erste Mal das Gefühl, dass nachhaltig etwas in mir geheilt ist. Ich will jetzt gar nicht anfangen, in die Details dieser Journey zu gehen. Was ich nur sagen will ist, dass ich in den letzten zehn Jahren oft damit gekämpft habe, ein normal funktionierendes Human-Being zu sein. Über die vielen Jahre On-off Therapie und vor allem auch durch meine eigene Psychotherapieausbildung, ist mir in den letzten Jahren auch bewusst geworden, wie viele positive Qualitäten meiner »Neurodiversität« auch meine Persönlichkeit ausmachen. Also plump gesagt: Leute mögen mich auch gerade aufgrund verschiedener dieser Aspekte. Einen tief verwurzelten Selbsthass so umzukehren war nicht leicht, aber hier bin ich! Und deswegen möchte ich auch über Neurodiversität und Sex sprechen.


Neurodiversität ist eigentlich ein Begriff, der durch das Aufkommen der internationalen Autismus-Bewegung in den 1990ern von Judy Singer gecoined wurde. Die meisten Lesenden kennen ihn vermutlich aber durch die steigende Popularität in Medien und auf Social Media in den letzten Jahren. Nur um das zu unterstreichen: Das war ursprünglich kein offizieller medizinischer Begriff, sondern vielmehr ein Überbegriff, der versucht hat Unterschiede in der sensorischen Verarbeitung, den motorischen Fähigkeiten, dem sozialen Komfort, der Kognition und der Konzentration als neurobiologische Unterschiede bei Personen zu definieren (Danke, Wikipedia!). Heutzutage wird er aber viel weitreichender in Abgrenzung zu »neurotypischen« Personen dazu verwendet, um zu betonen, inwiefern Aspekte einer psychischen Erkrankung nicht nur ein Negativum sind, das es gilt, zu heilen, sondern vielmehr eine produktive Charakteristik oder sogar besondere Fähigkeit. Ich hatte bis vor nicht allzu langer Zeit meine Probleme damit, dass sich Leute jetzt von Instagram bis TikTok selbst diagnostizierend als »neurodivergent« bezeichnen. Das lag vor allem daran, dass ich Angst hatte, dass dadurch der zugrunde liegende Leidensdruck vieler dieser Erkrankungen womöglich verwässert wird. Inzwischen glaube ich, dass der Gebrauch des Wortes insgesamt zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen beitragen kann, solange der Leidensdruck der zugrundeliegenden Erkrankung ernst genommen und behandelt wird. Es ist ein Hilfsbegriff, um Charakteristika der Wahrnehmung und des Denkens einer Person zu beschreiben, die eben nicht »neurotypisch« sind und deren Gehirn anders funktioniert. Sobald ich realisiert habe, inwieweit das auf mich zutrifft, musste ich intuitiv viel über meine früheren sexuellen Erfahrungen nachdenken, wie ich sie etwa mit meinem ersten Freund hatte. Aber auch an viele andere Begegnungen, in denen ich sexuell unbewusst so oder anders gehandelt habe, weil ich vor allem einen gewissen »Zustand« erreichen wollte. Gerade in der Zeit, in der ich viel Zeit mit anderen Menschen aus der BDSM-Szene gespielt habe, habe ich realisiert, wie entlastend viele Spielarten und Situationen für mein Gehirn sein können. 


Heute stehe ich natürlich ganz woanders als mit sechzehn. Trotzdem denke ich gern an diese ersten Erfahrungen zurück, weil sie in ihrer Unschuldigkeit etwas Ehrliches hatten, das ich erst viel später verstehen sollte. Inzwischen habe ich gelernt, Sex, aber auch BDSM (was für mich übrigens sehr selten sexuell ist) als für meinen ganzen Körper befreiend zu betrachten. Es sind Momente, in denen mein Gehirn, mein neuronales System aber auch einfach mein ganzer Körper sich nur auf die Person(en) vor mir konzentrieren kann. Egal ob aktiv oder passiv: Wenn ich aktiv bin, dann wird es in meinem Kopf ganz still und ich habe nur einen einzigen Fokus, der alle anderen Gedanken und Gefühle ausblendet. Wenn ich am Receiving-end bin, mag ich es inzwischen am liebsten, wenn ich zusätzlich zu anderen Stimulationen in irgendeiner Form einen oder mehrere Sinne einschränke, sei das eine Augenmaske oder Ohrstöpsel (Sensory Deprivation). Das hilft mir dabei, dass meine Gedanken nicht zu kreisen beginnen und ich in einem Deep-Focus bleibe. Ich brauche das nicht immer, aber an manchen Tagen sprudelt es in meinem Gehirn einfach mehr als an anderen. Wenn ich tiefer in die BDSM-Welt hineingehe, wurden Dinge wie Bondage oder Impact Play für mich synonym für ein Freiheitsgefühl. Klingt ambivalent. Aber die Reize, die hier zusätzlich an Haut, aber auch Schmerzrezeptoren ansetzen, haben für mein Gehirn in etwa die Wirkung, wie für andere Menschen Amphetamine. Natürlich ist Sex auch einfach eine hormonelle Explosion. Was während dem Sex, aber auch beim Orgasmus ausgeschüttet wird, hat bewiesenermaßen schmerzlindernde Wirkung. Natürlich erleben das auch neurotypische Menschen so. Für jemanden wie mich, der sein ganzes Leben einen Mangel an gewissen Hormonen bzw. eine Dysfunktion in ihrer Verteilung erlebt hat, war Sex aber fast schon wie eine neue Therapie, die es noch nicht auf dem Markt gibt. Dadurch haben für mich Sex und BDSM nochmal eine ganz andere Bedeutung bekommen und ich kann sie jetzt viel mehr bewusster genießen und erleben. 


Jedes Gehirn funktioniert anders. Und es gibt sowieso keine All-In-One-Lösung, aber ich wollte einmal anfangen, darüber zu erzählen, wie es bei mir ist und ich hoffe, dass die:der eine von euch etwas damit anfangen kann. Aus diesem Themenkomplex werde ich sicherlich noch öfter und in mehr Details schöpfen, aber das hier einmal als Anfang. Bei Fragen oder Anmerkungen könnt ihr einfach hier direkt drunter kommentieren oder mir eine Nachricht schreiben! 



Xoxo

Ania 


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English Version:


I remember it clearly. Every morning, when I was sitting on the train after late-night meetings with my first boyfriend, my smartphone would flash and my best friend at school at the time would ask: »So, how was it?« With my non-existent vocabulary, I usually didn't know what to answer, so I just wrote: »Wild«. My school friend immediately realized that I was referring to the scratch marks on my back and the bruises that adorned my upper arms. Some Tumblr meme quickly followed, in which you could see the scratched back of a well-trained athlete type. Underneath it was written: Good sex looks like this. That image should be burned into my brain forever. I guess what my boyfriend at the time and I had as sex would be labeled »kinky« in today's terms. Or in BDSM terms you could call it: Primal Play. Of course, back then I didn't know anything about kink or communities where this kind of thing was practiced and you could find like-minded peers. I was sweet sixteen and the guy I used to commute back and forth between the suburbs and Vienna for nightly adventures was the second person I'd ever had penetrative sex with. But why am I telling this story? Perhaps it has something to do with the fact that both that friend and I originally got together for completely different reasons. It was only years later that we slept together. At first, he was the only other person in my life who understood this darkness that had been gradually creeping into my head since I was twelve. My parents were understandably overwhelmed by our cryptic language and many friends wanted nothing to do with the black clothes or the »dark« music that we erected around us as a protective wall. At the time, we were miles away from the fact that there was something hidden in both of us that – as I would learn much later – was called depression. And the sex we had was a possibility and something we could feel ourselves.


Coincidentally, the time I had sex with my first boyfriend also coincided with the time my parents sent me to therapy for the first time. I hated it and at the same time, twelve years later, I'm so happy that they did. Because I wouldn't be standing here today if I hadn't gotten that help. Now, it has to be said that this first therapy wasn't particularly productive because mental health wasn't yet a big thing among teenagers and it was almost considered cool to go through this pain together in a subcultural way. But a few years later I started my second therapy and am now with my fourth therapist. There were always phases in which I felt better at times and then more turbulent waves that pulled me back into the ocean. I have to say: I also changed diagnoses over the twelve years, like used trainers. However, after many years of uncertainty, I now have the feeling for the first time that something in me has been permanently healed thanks to therapy and medication. I don't want to start going into the details of this journey now. I just want to say that over the last ten years I have often struggled to be a normal functioning human being. Over the many years of on-off therapy and, above all, through my own psychotherapy training, I have also realized in recent years how many positive qualities of my »neurodiversity« also make up my personality. To put it bluntly: people like me precisely because of various of these aspects. It wasn't easy to turn around a deeply rooted self-hatred like this, but here I am! And that's why I want to talk about neurodiversity and sex.


Neurodiversity is actually a term coined by Judy Singer with the rise of the international autism movement in the 1990s. However, most readers are probably familiar with it due to its increasing popularity in the media and on social media in recent years. Just to emphasize that: It wasn't originally an official medical term, but rather an umbrella term that attempted to define differences in sensory processing, motor skills, social comfort, cognition and concentration as neurobiological differences in individuals (thanks, Wikipedia!). Nowadays, however, it is used much more broadly in distinction to »neurotypical« people to emphasize the extent to which aspects of mental illness are not just a negative to be cured, but rather a productive characteristic or even a special ability. I had my issues until not too long ago with people now self-diagnosing themselves as »neurodivergent« on everything from Instagram to TikTok. This was mainly because I was worried that it might dilute the underlying distress of many of these conditions. I now believe that the use of the word as a whole can help to destigmatize mental illness, as long as the suffering of the underlying illness is taken seriously and treated. It is an auxiliary term to describe characteristics of a person's perception and thinking that are not »neurotypical« and whose brain functions differently. As soon as I realized to what extent this applies to me, I intuitively had to think a lot about my previous sexual experiences, such as those I had with my first boyfriend. But I also remember many other encounters in which I unconsciously acted one way or another sexually because I wanted to achieve a certain »state«. Especially during the time when I spent a lot of time playing with other people from the BDSM scene, I realized how relieving many types of play and situations can be for my brain.


Of course, I'm in a completely different place today than I was at sixteen. Nevertheless, I like to think back to these first experiences because they had something honest in their innocence that I would only understand much later. I have since learnt to see sex, but also BDSM (which is very rarely sexual for me, by the way), as liberating for my whole body. These are moments in which my brain, my neuronal system and my whole body can concentrate solely on the person(s) in front of me. Whether active or passive: when I'm active, my mind goes completely silent and I only have a single focus that blocks out all other thoughts and feelings. When I'm at the receiving end, my favorite thing now is to restrict one or more senses in addition to other stimulation in some way, be it an eye mask or earplugs (sensory deprivation). This helps me to prevent my thoughts from going round in circles and keeps me in deep focus. I don't always need it, but some days it just bubbles up in my brain more than others. Going deeper into the BDSM world, things like bondage or impact play have become synonymous with a sense of freedom for me. Sounds ambivalent. But the stimuli, which also act on the skin and pain receptors, have roughly the same effect on my brain as amphetamines do for other people. Of course, sex is also simply a hormonal explosion. What is released during sex, but also during orgasm, has a proven pain-relieving effect. Of course, neurotypical people also experience this. But for someone like me, who has experienced a lack of certain hormones or a dysfunction in their distribution all my life, sex was almost like a new therapy that is not yet available on the market. As a result, sex and BDSM have taken on a whole new meaning for me and I can now enjoy and experience them much more consciously.


Every brain works differently. And there is no all-in-one solution anyway, but I wanted to start talking about what it's like for me and I hope that some of you can relate to it. I'm sure I'll be writing about this topic more often and in more detail, but this is a start. If you have any questions or comments, just comment below or send me a message!



Xoxo

Ania

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